Alice 10: Eine Begegnung von Licht und Schatten

Alice: Wanderer im Zwielicht

Kapitel 10: Eine Begegnung von Licht und Schatten

„Dienerin von Lapis, lasst uns bitte allein. Wollt Ihr Euch wirklich weiter einmischen?“

Alice war ohne zu zögern direkt zu Sylvia geflogen und hatte sich vor ihr aufgebaut, von Sylvias Größe völlig unbeeindruckt.

„Nein, Ihr habt Recht. Gegen zwei von Eurer Sorte ist es dann doch etwas zu anstrengend für mich. Ich überlasse euch das Feld, aber ich bin sicher, dass wir uns wiedersehen werden.“

Sylvia hielt für einen Moment inne.

„Hoffentlich seid Ihr dann nicht mehr zweigeteilt.“

Mit Gebrüll und einer Stichflamme kehrte Sylvia in ihre menschliche Gestalt zurück und entfernte sich fliegend gen Osten, Richtung Certo.

Als der Drache in der Entfernung immer kleiner wurde, wendete sich Alice ihrem dunklen Gegenstück zu. Beide schwebten eine Weile über den Ästen von Yggdrasil und musterten sich schweigend.

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich dich um Hilfe gebeten habe. Ich wäre schon allein mit ihr klar gekommen.“

„Und ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich gekommen wäre, um dich zu retten. Ich mag es nur nicht, wenn du den Lauf der Geschichte veränderst.“

„Den Lauf der Geschichte verändern? Du machst mir Spaß, Kindchen. Was hast du denn bisher geleistet?“

„Ich bin dabei, diese Welt zu beschützen, da ich nicht möchte, dass noch einmal jemand erlebt, was ich erlebt habe, äh, was wir erlebt haben. Finsternis, Mord und Totschlag, das sind nicht die Mittel, mit denen man Lapis besiegen kann. Wir brauchen Hoffnung, ein Licht in der Finsternis.“

„Alles klar, mein Sonnenschein, jetzt lass mal dein zuckersüßes Gesülze, sonst krieg ich noch Plaque. Das ist genau der Quark, den Schwächlinge von sich geben, kurz bevor sie abnippeln. Ich fürchte, da muss ich wohl nachhelfen, um deinen Teil der Macht mit meinem zu vereinen.“

„Verstehst du nicht, dass du deine Macht nur zur Zerstörung von allem und jedem einsetzt? Das kann doch nicht alles sein im Leben!“

„Pah! Metzeln macht Laune, verstehst du? Deswegen werde ich dich und auch Lapis umbringen. Ich schneide euch in feine Streifen, dann setze ich euch wieder zusammen, nur dann mit deinem Kopf auf seinen Schultern und umgekehrt, oder so. Und dann bringe ich euch nochmal um! Schrödinger, auf geht’s, Beschwörungsmodus!“

„Miau~!“

Schrödinger öffnete erneut sein Maul, um schwarze Nebelkugel auszuspucken. Allerdings nahmen die Nebelkugeln dieses Mal nicht die Form der üblichen Schattensoldaten an, so wie im Kampf gegen Sylvia. Stattdessen schwebten auf einmal die dunklen Schattenabbilder der fünf von der Dunklen Alice getöteten Herrscher vor Schrödinger in der Luft: Faria, Melgis, Rezzard, Arla und Machina hatten wieder Gestalt angenommen und Alice war entsetzt.

„Diese Überraschung habe ich nur für dich aufgehoben. Irgendwie schade, dass ich es tatsächlich benutzen muss, aber was soll’s. Das ist dein Ende, Schwächling. Göttergabe: Walpurgisnacht!“

Eine schreckliche Macht wurde von der Dunklen Alice entfesselt. Der Himmel verfärbte sich zu einem dunklen Lila und selbst das Sonnenlicht schien jetzt kalt und dunkel zu strahlen. Die Luft war stickig und beißend geworden, als ob unsichtbarer Rauch in der Luft lag.

„Schau es dir genau an! Von deiner lieben Faria ist nur noch ein Schatten übrig geblieben, den ich kontrolliere. Na, wenn das mal kein Schock für dich ist. Bist du jetzt sauer auf mich, Schwesterherz?“

Überrascht und geschockt vom plötzlichen Anblick ihrer toten Freundin war Alice wie gelähmt und machte keine Anstalten, sich gegen die Dunkle Alice und ihre Schergen zu verteidigen.

„Alice, glaub ihr kein Wort!“

Die Stimme von Viviane war zu hören und Alice schien aus ihrer Starre zu erwachen.

„Ich weiß, Viviane, ich weiß. Danke! Ich war nur etwas abgelenkt.“

„Alice, folge der Macht von Excalibur und höre auf den wahren Willen deiner Freundin Faria.“

Alice konzentrierte sich und tatsächlich, aus Excalibur schien die Stimme ihrer toten Freundin zu sprechen.

„Alice, im Geiste werde ich immer bei dir sein. Bleib immer du selbst und nichts kann dir etwas anhaben!“ Alice lächelte.

„Du hast Recht, ich sollte mich einfach besser konzentrieren. Ich glaube, sie weiß das auch. Ihre Macht kann niemanden retten. Das ist meine Aufgabe. Ich werde diese Welt retten und meine Welt zurückerobern. Göttergabe: Erinnerung an Utopia!“

Fast wie ein exaktes Gegenstück zur Macht der Dunklen Alice, ging ein strahlendes Leuchten von Alice aus, welches jeglichen Schatten vertrieb. Selbst die Schattenwesen der Dunklen Alice wurden schwächer und schwächer.

„Diese Macht … mit dieser Macht könntest du im Handumdrehen alles vernichten, aber was machst du? Du verschwendest sie, um diese Schwächlinge hier zu retten.“

„Das ist richtig. Ich lasse niemanden mehr sinnlos sterben. Daher muss ich auch dich retten und von diesem schrecklichen Dasein befreien, das du hier fristest.“

„Mich retten? Haha! Du bist lustig. Du kannst niemanden retten! Begreif das endlich, du brauchst mich, und zwar als Verbündeten.“

„Nein, da irrst du dich gewaltig. Ich habe mich jetzt endlich an alles erinnert, was ich verdrängt hatte. Ich hatte mir so viel Mühe gegeben, den Tag zu vergessen, an dem die Welt unterging, an dem Lapis meine Welt gestohlen hat. Ich war so traurig, so wütend, ich wollte ihn umbringen. Mehr als alles in der Welt wollte ich ihn umbringen. Und daraus wurdest du geboren. Mein Hass und meine Schwäche sind deine Eltern. Wir beide sind ein und dieselbe Person und ich bin mir sicher, dass wir beide eigentlich dasselbe wollen. Aber töten und Macht einverleiben ist genau das, was Lapis macht. Wenn wir ihn aufhalten wollen, wenn wir die Erde wirklich wiedersehen wollen, dann müssen wir zusammen kämpfen und zwar für Attoraktia.“

„Du nennst mich schwach?! Schau dir doch an, was ich alles geschafft habe! Sieh dir an, wieviel Macht ich schon sammeln konnte! Du bist es, der aus Schwäche heraus geboren wurde! Du bist der klägliche Rest meines Gewissens, der letzte Teil meiner Unfähigkeit. An dem Tag, an dem wir die Erde sterben sahen, habe ich dich in den finstersten Weltraum verbannt. Du hast es nur meiner Großzügigkeit zu verdanken, dass du auf Grimms Welt herumspielen durftest. Aber jetzt ist mir klar, dass ich dich nicht mehr brauche. Schrödinger, auf geht’s, Vernichtungsmodus!“

„Miau~.“

Mit einem schwachen Seufzer überließ Schrödinger den letzten Rest seiner Kräfte der Dunklen Alice.

Alice umklammerte Excalibur fester und brachte Herz und Geist in Einklang mit Farias Stimme. Endlich hatte sie die Möglichkeit, den Wahnsinn ihrer Dunklen Hälfte zu beenden.

Im nächsten Augenblick trafen Licht und Finsternis aufeinander, doch so schnell wie das Duell begann, war es auch schon wieder vorbei.

Die Dunkle Alice stürzte zu Boden – ihrer Kräfte beraubt – und landete vor den Wurzeln von Yggdrasil. Doch auch Alice stürzte nur wenige Meter von ihr entfernt auf die Erde, aus einer großen Wunde blutend. Beide Kontrahenten starrten sich an, die Stille war geradezu unheimlich.

Einen Augenblick später schienen unzählige schimmernde Tropfen von den Zweigen und Ästen des Weltenbaums auf sie herab zu fallen, welche die beiden mit einer Art Kokon aus Licht umschlossen und in den Baum hineinzogen.

„Hmm, ich frage mich, wie die Sache ausgehen wird.“

„Wir wissen doch schon, wie sie ausgeht.“

„Echt jetzt?“

„Echt jetzt.“

Und aus weiter Ferne des Universums beobachteten ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen weiterhin den Konflikt zwischen der Alice des Lichts und der Alice des Schattens.

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