
Kapitel 5: Karmesinrotes Mädchen im Himmel
Grimm: Das Fliegende Schloss und Die Zwei Türme
5. Kapitel: Karmesinrotes Mädchen im Himmel
Sie streckte sich und blickte vom Fliegenden Schloss hinab, sah aber nichts als Wolken. Unterhalb des Fundaments des Schlosses breitete sich ein endloses Wolkenmeer aus, das keinen Blick auf die darunter liegende Erde zuließ. Das Fliegende Schloss, mit Hilfe magischer Energie in die Lüfte erhoben, schwebte stets oberhalb der Wolken, verborgen vor den Blicken der Erdbewohner. Deshalb konnte das Mädchen ihre ehemalige Heimat auch nicht sehen, blickte aber dennoch voller Sehnsucht auf das Wolkenmeer und stellte sich vor, wie es wohl inzwischen darunter aussehen würde.
Eines der Elfenkinder, die hier im Schloss lebten, lief auf sie zu und fragte: „Du-hu, warum bist du immer hier an dieser Stelle?“
„Ich möchte mich erinnern … erinnern an meine Heimat.“
„Häh? Das verstehe ich nicht.“
Das Elfenkind blickte sie fragend an. Sie lächelte freundlich zurück und erinnerte sich daran, dass es da ja etwas gab, dass sie nicht vergessen durfte.
Das Schloss, in dem sie sich befand, existierte in einem mysteriösen Raum zwischen Erde und Mond, in dem die Zeit viel langsamer lief als auf der Erde.
Verantwortlich für diese Anomalie im Raum-Zeit-Kontinuum waren die übernatürlichen Kräfte von Fiethsing, einer mächtigen Magierin, die zu den Sechs Weisen gehörte, und die gewaltige Energie eines Wahren Zaubersteins, der die Seele eines Magiers in sich trug.
Es war jetzt schon etwa tausend Jahre her, dass dieses Schloss sich mitten in einer gewaltigen Schlacht in die Lüfte erhoben hatte, doch seinen Bewohnern kam es vor, als wären seitdem erst höchstens hundert Jahre vergangen.
Hier lebten hauptsächlich Elfen und Angehörige eines Volkes, die sich Uralte nannten. Unter ihnen waren auch einige, die zusammen mit der Unsterblichen Prinzessin und den Sechs Weisen gegen die „Großen Alten“ gekämpft hatten. Und das Mädchen war eine von ihnen.
Bevor Kaguya wieder zum Mond zurückkehrte, hatte sie Worte der Warnung ausgesprochen, die schon fast einer Prophezeiung gleich kamen.
„Das Siegel, das die „Großen Alten“ unter Verschluss hält, wird bald gebrochen werden – vom Finsteren Propheten und dem Dämon in Rot.“
„Dieses Schloss wird zwar von übernatürlichen Kräften beschützt, aber Fiethsings Barriere wird nicht mehr lange standhalten können, sobald der Alte Turm reaktiviert ist.“
„Der Dämon in Rot sucht dieses Schloss. Ich muss kurz auf den Mond zurück und mich auf die Schlacht vorbereiten. Bitte haltet durch, bis ich zurück bin!“
Damals hatte das Mädchen bei diesen Worten lächeln müssen, ungeachtet der wirklich ernsten Situation.
„Ja, eines darf ich niemals vergessen. Ich muss meinen Namen zurückerobern, den mir „dieser Jemand“ damals entrissen hat.“
„Endlich ist die Zeit gekommen.“, sagte das Mädchen entschlossen zu sich selbst. „Ich weiß zwar immer noch nicht, wer „dieser Jemand“ ist. Aber er hat mich durch seine Lüge um meine Welt, meine Gestalt und meine Geschichte gebracht! Dies darf nicht so weiter gehen, ich werde alles zurückerobern! Und dazu brauch…“
„Du-hu, warum schaust du so ernst?“
„Oh, äh, hab ich das wirklich?“
„Ja, du siehst fast zum Fürchten aus!“
„Tut mir leid, ich habe nur daran gedacht, wer ich früher gewesen bin. Vor langer langer Zeit hatte ich noch ein Haus und eine Geschichte, zu denen ich zurückkehren konnte.“
Das Kind war verwirrt, „Oh, in echt jetzt?“
Das Kind konnte nicht verstehen, was das Mädchen da sagte. Aber es war ihre wahre Geschichte. Egal, wie alt diese Geschichte nun wirklich war, sie würde sie niemals vergessen. Und sie sprach stets die Wahrheit. Sie war sich sicher, dass ihre Geschichte irgendwie mit „diesem Jemand“ zusammenhing.
Auf einmal regte sich ein Lüftchen. Hier im Schloss, das in einem mysteriösen Raum zwischen Erde und Mond existierte, in dem die Zeit viel langsamer lief als auf der Erde und wo sich nie auch nur das geringste Lüftchen regte.
Das Lüftchen wurde stärker und war jetzt ein Wind. Und unterhalb des Fundaments des Schlosses wurde die Wolkendecke dünner, sodass man die Erde schon fast sehen konnte.
Das Mädchen schlug ihre rote Kapuze hoch.
„Pass bitte auf, es ist gefährlich, hier zu sein. Du solltest besser nach Hause gehen.“, sagte sie zu dem Elfenkind.
„Alles klar, mache ich!“
„Und bleibe bitte nirgends stehen und bummle nicht.“
„Ja-ha.“
Das Kind lief den Weg zurück, den es gekommen war. Normalerweise fand es am Rand des Weges immer etwas, das interessant genug war, um stehenzubleiben. Doch nicht heute. Heute blieb sein Blick starr auf den Weg gerichtet und es setzte konzentriert einen Fuß vor den anderen…